Pamela C. Scorzin

Shooting Ourselves To Death
Wie die Handykamera die Fotografie revolutioniert

Gleich zwei Beiträge widmet das erste Heft der Cahiers dem auf der ­dOCUMENTA 13 in Kassel gezeigten Arbeitszyklus ­The ­Pixelated ­Revolution des libanesischen Künstlers Rabih Mroué. Die Betrachtungen von ­Pamela­ C. ­Scorzin und Gregor Sailer gehen dabei jeweils unterschiedlich den Fragen nach Opferrollen und den Bildmedien und ihrer Authentizität nach.
Ein Angebot für gewissermaßen stereoskopisches Lesen.

Digitale Kameras, internetfähige Smartphones und Photo Apps wie Instagram revolutionieren derzeit wiederholt unser Verständnis vom Wesen und Charakter der Fotografie. Diese befindet sich seit der umfassenden Digitalisierung im 20. Jahrhundert, sowie dem Aufkommen zahlreicher neuer fotokünstlerischer Praxen in den Bildenden Künsten, längst in einem Zustand der „Post-Photography“. Es eröffnen sich dabei viele Konkurrenzen wie Kongruenzen mit den neuesten digitalen foto-filmischen Bildern.

Die wesentlichste Veränderung liegt jedoch im Zeitalter des Web 2.0 in der Emanzipation der User, vormals Dilettanten genannt, die ihre Bilder weltweit rege miteinander teilen. Denn wer heute Zugang zu den technologischen Gerätschaften und weltweiten Netzwerken hat, kann auch zum Sender von Bildern mit potentiell globaler Wirksamkeit werden. Mit der damit einhergehenden Inflation der (mobilen) Bilder sind aber Fragen und Aspekte der fotografischen Bild- und Medienkompetenz offensichtlich erst einmal außen vor.

Wichtiger als formal-ästhetische Kriterien allein scheint nun die soziale Mitteilungsart der heute weltweit verbreiteten (audio-)visuellen Aufnahmen, also ihre strategische Intentionalität, und ob sie überhaupt für irgendjemanden von irgendwelcher Relevanz sein könnten. Dabei entstehen in einer Ära der Post-Photography neue Vorstellungen darüber, was den eigentlichen Inhalt und dessen Wirkung auf das Publikum betrifft und gemeinhin charakterisiert. Denn auch darüber entscheiden heute nicht mehr allein etwa nur Profis wie etablierte (Bild-)Redakteure, Kritiker oder Experten, sondern die Masse der unentwegt Bilder-Schießenden und -Versendenden selbst, auf ihren eigenen, selbst geschaffenen digitalen Plattformen im World Wide Web.

Wie stellen sich nun aber diejenigen, die sich heute noch Photo Professionals oder fotokünstlerische Bilderproduzenten nennen wollen, und dabei oftmals auf ihre zertifizierten akademischen Ausbildungswege verweisen, dieser aktuellen Konkurrenz der großen Photo Communities einer digitalen und globalisierten Zeitenwende? Hat sich dabei die Fotografie nicht schon längst selbst zu Tode geschossen? Und sind wir aber nicht gleichzeitig auch dabei, ihre phänomenale Wiederauferstehung in Form neuer ­vitaler ­post-fotokünstlerischer Praktiken zu erleben?

Ein gelungenes, weil in seiner Originalität und Wirksamkeit höchst eindringliches und aufklärerisch wirkendes Fallbeispiel hierfür liefert eine aktuelle, szenografierte Mixed Media Installation von Rabih Mroué (geb. 1967 in Beirut), die nach ihrer Premiere 2011 im Walker Art Museum in Minneapolis im Frühjahr 2012 im Berliner Haus der Kulturen der Welt und auf der dOCUMENTA (13) im Südflügel des Kasseler Kulturbahnhofs prominent ausgestellt worden ist. Sie trägt den bezeichnenden allgemeinen Titel The Pixelated Revolution, der eine doppeldeutige Bedeutung gewinnt, wenn man das Abstract zum Werktitel liest: „Die Lecture-Performance The Pixelated Revolution von Rabih Mroué handelt vom Einsatz von Mobiltelefonen während der syrischen Revolution. Der Vortrag untersucht die zentrale Rolle, welche die mit diesen Geräten aufgenommenen Fotografien aufgrund ihrer Fähigkeit,
über virtuelle und virale Kommunikationsplattformen geteilt und verbreitet zu werden, bei der Information und Mobilisierung der Menschen während der revolutionären Ereignisse spielten.“

Nun wird von Kulturwissenschaftlern schon eine geraume Zeit lang über den Zusammenhang zwischen den politischen Geschehnissen des sogenannten Arabischen Frühlings und den neuen globalen digitalen Kommunikationstechnologien spekuliert. Beide werden dabei als noch nicht abgeschlossene revolutionäre Entwicklungen der kulturellen Gegenwart eingestuft, die kulturgeschichtlich gesehen eng miteinander in struktureller Wechselwirkung und in gegenseitiger Bedingung stehen könnten. Denn Aufständische, Opfer, Demonstranten oder Protestler haben offenkundig nun zum ersten Mal in der Geschichte eine ungleich größere Möglichkeit, Nachrichten und hier insbesondere Bilder gesellschaftlich revolutionärer Ereignisse selbst zu generieren und global zu distributieren, d. h. „Geschichte“ live über alle Grenzen und Zensuren hinweg für eine interessiert beobachtende und parteiisch zu affizierende Weltgemeinschaft zu dokumentieren. Schwere Zeiten allemal für all jene, die sich vormals sicher in tradierten Hegemonien und sozialen Hierarchien wähnten.

Nun führt aber auch die Inflation der vermeintlich authentischen Bilder aus den verschiedensten gegebenen revolutionären Ereignissen dieser Welt nicht nur zu einer ausgeprägten Rivalität mit den quasi offiziellen Medienbildern der institutionellen und politischen Berichterstattungen, sondern vielmehr auch zu einer fatalen gegenseitigen Konkurrenz, die wiederum zu einer gewissen Wirkungslosigkeit in der Effektivität (foto-)bildlicher Rhetoriken führt, und die Rezipienten damit eher weiter abstumpft als emotionalisiert oder politisch agitiert: „Wir sehen alles und nichts. Wir sind blind.“ 1Vgl. Rüdiger Schaper: „Wir sehen alles und nichts. Wir sind blind“ in DER TAGESSPIEGEL vom 31. Mai 2012 im Internet online unter www.tagesspiegel.de/kultur/dokumente-der-gewalt-wir-sehen-alles-und-nichts-wir-sind-blind/6691686.html

Damit eröffnet sich ein Diskurs, der für viele kritische Bilderproduzenten und  -theoretiker gegenwärtig zentral wird: Wie könnten die Bilder einer Post-Photography generell wieder eine nachhaltigere Wirksamkeit und Reflektiertheit erreichen, die die Rezipienten emotional berührt, gleichzeitig intellektuell anregt und zum verantwortungsvollen politischen Handeln aktiviert, anstelle schlimmstenfalls einen Voyeurismus an der Gewalt zu bedienen, ins Pathos zu inszenieren oder bestenfalls die passiven Zuschauer in eine apathische Lethargie des empathischen Mitleidens und emotionalen Überwältigens zu führen, die die so erzwungene Augenzeugenschaft der vermeintlich authentischen Bilder bei ihnen häufig nur auszulösen vermag?

Den Weg, einen doppelten Diskurs zu eröffnen, beschreitet der libanesische Theaterregisseur, Schauspieler, Publizist und bildende Künstler Rabih Mroué. Anstelle der Bilderflut noch mehr eigene Bilder hinzuzufügen, gestaltet er mit visuellem Found Footage, d. h. gezielt recherchierten und vorgefundenen Bildern aus dem Internet, einen szenographierten Bilderraum als begeh- und erfahrbaren Denkraum zu einem frappierendem Bilderphänomen der digitalisierten und globalisierten Ära.

Mroué legt dabei auch vorneweg für das Publikum offen: „I’m not the one who recorded or produced them. And this came out of my belief that it’s now very difficult for artists to produce images, especially with the glut of imagery in the media. The question seems simple enough: What images can artists produce and is it possible to confront these images that we receive every day with yet more images that we produce? These are the questions that I pose in many of my works“ 2Rabih Mroué zitiert nach „Lost in Narration: A Conversation between Rabih Mroué and Anthony Downey“ (5. Januar 2012) im Internet unter www.ibraaz.org/interviews/11

Wobei die Frage nach dem Grad der Authentizität des dabei verwendeten respektive angeeigneten anonymen Bildmaterials aus dem Internet, das, was gerne mit Begriffen wie Echtheit oder Wahrheit bezeichnet wird, aber offen, weil sowohl für den Künstler als auch für die späteren Rezipienten letztlich weitgehend unüberprüfbar bleibt. Wichtig allein ist dabei für den Künstler, dass es als zeitgenössisches Bilderphänomen en gros als solches existiert und als solches in der Zitation reflektiert wird. Es geht ihm mehr um die rationale Dekonstruktion und „De-Ikonisierung“ zeitgenössischer Bilderphänomene, deren Thema hier die Darstellung von Gewalt und Tod in der medialen Gegenwart ist – eine reale direkte Gewalt der revolutionären Konflikte, die sich mit ihrer bildlichen Dokumentation in eine von der Realität im Wesentlichen geschiedene symbolische Gewalt transformiert.

Die Repräsentation von Gewalt in medialen Zeichensystemen bringt somit immer auch ein Potential an darstellerischer und narrativer Fiktionalität mit sich. Diese wird umso mehr notwendig, um sich mit der Thematik als solcher überhaupt mental auseinander setzen zu können, ohne von dem Ereignis selbst ganz überwältig zu werden. Es ist somit mitnichten trivial hier zu betonen, dass es einen gewaltigen Unterschied für das Erlebnis ausmacht, etwa einem Todesschützen (Sniper) real gegenüberzustehen oder diese Konfrontation über ein Medium zu erfahren. Im zweiten Fall ist es ein szenografisches Konzept, dessen Schock die nachhaltigere, weil nicht tödliche oder traumatisch lähmende, kathartische Wirkung entfaltet. Wir brauchen, so zynisch und paradox es auch klingen mag, folglich auch die Sichtbarkeit von Bildern des Todes und der Gewalt in unserer Kultur.

Die Installation The Pixelated Revolution von Rabih Mroué besteht aus mehreren Komponenten: Sieben großformatigen Prints, die in verpixelter Unschärfe und pastellfarbiger Verschwommenheit, frontal Personen mit Waffen im Anschlag zeigen, mehreren Flipbooks (kleinen Daumenkinos), die Handyfilme aus Internetquellen wie YouTube in analoger Technik simulieren, wobei sich der Betrachter bei jedem Gebrauch mit ihrer abfärbenden Farbe die Hände „schmutzig“ macht, sowie dem abrufbaren O-Ton des Internetmaterials, ferner einer Videoprojektion, die die Silhouette eines Fallenden mit Handykamera zeigt und einem Videofilm, der eine zuvor aufgezeichnete Lecture-Performance von Rabih Mroué zum Werkthema dokumentiert.

Die post-fotokünstlerische Arbeitsweise liegt bei Rabih Mroué offenkundig lediglich in der Auswahl und Kombination, bei der strategischen wie intentionalen Zusammenstellung von vorgefundenem Bildmaterial, das durch seine Ent- und Neukontextualisierung,  d. h. durch das kalkulierte Setzen in einen neuen Rahmen, hier in die gewählten formalen Dispositive und neuen Displays der Gesamtinstallation in einem größeren Ausstellungskontext, erst sprachfähig wird.

Darin liegt freilich auch der Unterschied zwischen dem bildenden Künstler, dem (Bild-)Journalisten und dem politischen Aktivisten: Der Erste bleibt eher skeptisch, analysierend, zitierend und reflektierend, der andere informiert lediglich mit vermeintlich objektiven Fakten und der letzte will vielmehr nur agitieren und mobilisieren, wie ­Rabih­ Mroué – quasi in einem Seitenhieb auf eine zeitgenössisch politisierte und propagandierende Kunst, wie sie auf der letzten Berlin Berlinale von Artur Zmijewski zu ­sehen war – im Interview mit U. G. Lambert auf www.premierartscene.com am 6. Juni 2012 in Kassel – ausdrücklich festhielt: „Of course, when I create a work of art, I don’t expect to change anything. For me art can basically open a platform for debate, or ask questions about everything. So, what I expect is that my installation makes people talk and reflect. In this sense, I am not at all an activist or promoting any specific political concept. I think activism is very good, but not in arts. For me, a lot of bad art had been done by political activists (in a very narrow definition).“

Wenn es also auch für den Bildkünstler wie für den Bildjournalisten gelten sollte, sich mit keiner Sache, wenn auch einer noch so guten, zu sehr parteiisch zu machen, so bleibt doch die unmittelbare Betroffenheit der ersten Begegnung mit diesen effektvoll schockierenden, authentisch gewaltvollen foto-filmischen Bildern, die schließlich gerade umso mehr auch für den bildenden Künstler als den ersten Betrachter gilt, und zur Motivation für einen engagierten bildnerischen Kommentar gerät: „As we talked about the situation in Syria, there were only two different sources: Official regime TV and the internet, where the protestors had been uploading their videos. If you want to follow seriously, what is happening, you have to go to both sources. What struck me was a video, where you see a (cell phone) cameraman filming a regime soldier with a gun, and then, suddenly, this person fires his gun at the cameraman and the camera falls and the video ends.

After I found this first video, I found many more videos like that in the internet. I was shocked. It is like a war against the camera, or against the image. The installation is about these videos mainly: I started to deconstruct the videos. I separated the sound from the images. I made large prints of the shooters. I made small-scale flipbooks from the videos. This way, the visitors have to try to reconstruct the quick internet video in their heads. My deconstruction is a kind of obstacle in order to find out, what is really happening there. But we don’t know what is really happening there.“ 3www.premierartscene.com/magazine/rabih-mroue-interview

Aus Schuss und Gegenschuss, aus diesem bekannten mehrdeutigen foto-filmischen Spiel, wie es uns beispielsweise noch Andy Warhol in den sechziger Jahren mit einem ironischen Augenzwinkern in seiner Elvis-Siebdruck-Reihe nach den Flaming Star-Filmstills vorführte, ist zwischenzeitlich in der Wirklichkeit tatsächlich ein wahrer Todernst geworden. Und nurmehr noch die globalisierte zeitgenössische Street Art mag darin, vielleicht noch kokettierend und mit einem zynischen Augenzwinkern, eine ironische Pointe sehen wollen.

„They’re shooting their own deaths!“ – zutiefst von der Betrachtung dieser Art der in Form von Digitalfoto und -film dokumentierten gegenseitigen Shoots dennoch emotional berührt, hinterfragt Rabih Mroué das in der Kunst und Kultur bislang gerne romantisierte „Double Shooting“. Welche Rolle spielt dabei die digitale Technik der allgegenwärtigen Handykamera – nämlich darin, dass Menschen, anstelle sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, vielmehr ihre Todesschützen augenscheinlich face to face fotografieren oder filmen? Es dreht sich dabei alles auch um das Verhältnis von Technik und Körper, denn werden die technologischen Gerätschaften, Gewehr und Kamera, hier beide im Sinne von kulturellen Waffen, im Verständnis nicht zu Extensionen der biologischen Körper? Sind die Smartphones der syrischen Demonstranten und Aufständischen eine unmittelbare Erweiterung, eine Bewaffnung ihrer Körper? Ist das ins World Wide Web gestellte und damit veröffentlichte foto-filmische Bildmaterial nur ein Bruchteil einer Masse von Aufzeichnungen, die nicht ins globale Netz gelangen?

Dort, wo Bildjournalisten jedenfalls aus vielen Gründen abwesend bleiben, werden zumindest die direkten Aufnahmen der involvierten Augenzeugen und Akteure heute zum unverzichtbaren Teil offizieller Berichterstattungen – siehe CNN oder Al Jazeera. Wirkt die Handykamera dabei für die Aufzeichnenden wie ein magischer Schutzschirm (Screen), ein vermeintlicher Panzer, der dem Opfer ein Gefühl von (medialer) Unsterblichkeit gibt oder lediglich nur eine seltsame und fatale Realitätsverschiebung produziert – das Als-Ob eines Filmes? Was bewirken diese foto-filmischen Todestestimonien wiederum im Betrachter? Verstehen wir diese amateurhaften Fotografen, die hier ‚ihren eigenen Tod schießen’ im Nachhinein vielleicht als moderne Märtyrer für eine bestimmte politische Sache?

Dabei ist in diesen dramatischen Momenten dokumentierter höchster Augenzeugenschaft oftmals doch nicht wirklich viel für die Betrachter zu sehen oder zu erkennen; die Imagination und Einbildungskraft der Rezipienten füllt die kruden und simplen Handybilder mit emotionalisierender Bedeutung und Sinn. Unruhige Bewegungen einer anonymen Handykamera, ihre fotografischen Unschärfen und digitalen Ästhetiken, das vergrößerte Auspixeln der gezoomten Aufnahmen, liefern schließlich keine eindeutigen, beweiskräftigen Fotodokumente im eigentlichen Sinne. Denn das direkte Involviertwerden in einen aktuellen politischen Konflikt, den es in einer unmittelbaren ­Augenzeugenschaft zu dokumentieren gilt, duldet offensichtlich kein ruhiges Fotostativ mehr und wird zugleich zum ästhetischen Marker seiner vermeintlichen Wahrhaftigkeit. Umso mehr verstärkt jedoch der gleichzeitig mit den Bildern aufgezeichnete O-Ton, der digitale Sound noch ihre bildliche Authentizität: Tatsächlich hören wir mehr als sähen wir das abrupte Fallen der Handykamera nach dem peitschenden Schuss aus einer auf den Betrachter gerichteten Waffe.

Rabih Mroué zeigt uns mit seinen Fotobildern ausschließlich die Perspektive der Opfer, ohne sie selbst zu zeigen. Deshalb bleiben am Ende der Betrachtung auch viele Fragen offen, ob der Getroffene beispielsweise tot, verwundet oder im Nachhinein doch noch gerettet wurde. Sie hinterlassen bei den Rezipienten einen beunruhigend nachwirkenden, beklemmenden und verstörenden Eindruck. Im höchsten Moment der direkten, ereignishaften Gewalt endet der Film, friert das Fotobild ein – erstirbt, um im Diskurs erst neu wieder aufzuerstehen und weiter zu leben – wie die Kunstfotografie als eine neue ‚Post-Photography’ insgesamt.