Susanne Brügger

Dr. Jekyll & Mr. Hype

Der eine hält sich für eine total existierende Ganzheit und der andere meint, er sei eine andere Ganzheit. Das ist einfach zu viel. Dann gibt es keine Brüche /fractions/ mehr, sondern nur noch Reibungen /­frictions/…

Jean-Luc Godard, Liebe Arbeit Kino, Merve 1981

An dieser Stelle sollte eigentlich der Verriss einer „angesagten“ Ausstellung des vergangenen Jahres stehen. Nicht um des Verrisses willen, sondern weil die Ausstellung tatsächlich unsäglich war – und als Phänomen vielsagend. Mit maximalem Medienecho gab es positive Besprechungen in allen überregionalen Medien und Foren – weitestgehend ausgestaltet als Durchschlag der Pressetexte, ohne eine Nuance kritischer Reflexion. Bis hin zur Tagesschau reichte der Hype propagandistischer Mobilmachung.

Ein Paradigma für ein zunehmendes Phänomen: Kritiken, kritische Auseinandersetzungen, sind immer seltener anzutreffen. Stattdessen der Rat von namhaften Kritikern: wenn etwas nicht gefällt, dann sprich einfach nicht darüber. Es scheint eine „damnatio demoriae“ verhängt über jenes, was nicht gut ist. Das Schweigen, das schon in der Antike die Erinnerung an unliebsame Personen tilgen sollte, ist heute eher das Schweigen der Indifferenz, die den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgt.

Die journalistische Arbeit ist zumeist reiner PR-Tätigkeit gewichen. Was veröffentlicht wird, sind zunehmend Derivate von PR-Texten, von interessierten Kreisen lancierte werbende Äußerungen. Im Netz geben User-Kommentare manchmal den kritischen Part. Neben vielen bemerkenswerten Beiträgen entwickeln sich solche Threads allerdings häufig bloß zu „Volkes Stimme“, und derart beschleunigt sich der Abwärtstrend der Qualität kritischer Anmerkungen, dass „Kritik“ hier schnell zum Synonym für eine einfach nur abschätzige Äußerung wird.

Auch in geschlossenen Systemen ist es mit dem Umgang mit negativer Kritik nicht weit her. Allzu schnell ist das Wort vom „Nestbeschmutzer“ zu hören. Ein Begriff, mit dem schon zu Zeiten des Ersten Weltkrieges sogenannte „Vaterlandsverräter“ betitelt wurden. Die damit zugleich aufgezeigten Denkmuster sind stets territorial und vor allem autoritär. Leider ist diese Beobachtung beispielsweise auch in Hochschulen zu konstatieren. Dabei wäre gerade dies der geeignete Ort für kritische Auseinandersetzungen. Und auch in privaten Beziehungen tauscht man sich zunehmend lediglich über das aus, was man mag. Kritik liefert heutzutage eher das Signal für die Suche nach einem anderen Partner, als dass es als positives Zeichen für die Arbeit an der Beziehung gälte.

Kritik wird gemieden. Positiv soll alles sein. Erwähnt wird, was gefällt. Der „I-like-Button“ als zeitgemäße Entsprechung zum fotografischen Auslöser markiert die reflexhafte Reaktion einer Gesellschaft der ähnlich und immer ähnlicher Denkenden. In Orwellschem Neusprech wird der Begriff der ­Schwarmintelligenz als schmeichelhafte Umschreibung der Masse geprägt, deren diffuse Struktur und irrationales Verhalten, welches bislang ärgerlicherweise präzisen Vorhersagen zuwider lief, es nun auszuloten und zu differenzieren gilt. Die Kaufempfehlung kanalisiert dann zügig das positive Echo zur marktrelevanten Resonanz.

Vor diesem Hintergrund bleibt vielleicht zu fragen, inwieweit der „Kritiker“ nicht einfach eine überkommene Figur ist, ein Relikt aus Zeiten der Aufklärung, in denen die Tätigkeit der Kritik zur Vermittlung, zur Orientierung und zum Erkenntnisgewinn noch eher gefragt war als der muffige „Find-ich-gut-Modus“ einer wuchernden Wohlfühlhirnrinde.