Ralf Bohn

Saumpfade des Fotografen

In seinem Essay philosophiert Ralf Bohn vor dem Hintergrund Benjaminscher Texte über die Frage nach der sozialen Dimension der fotografischen Erzählung und den dialektischen Gegensatz zwischen der Ästhetik der Zeitlichkeit und der Gegenwärtigkeit der Fotografie.

Während seines Ibiza-Aufenthaltes im Jahre 1932 notiert Walter Benjamin in seiner autobiografisch ausgerichteten Berliner Chronik: „Wenn ich ein besseres Deutsch schreibe als die meisten Schriftsteller meiner Generation, so verdanke ich das zum guten Teil der zwanzigjährigen Beobachtung einer einzigen kleinen Regel. Sie lautet: das Wort ‚ich‘ nie zu gebrauchen, außer in den Briefen.“1Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1980, Bd. VI, S.475. Seinen eigentümlich magischen Erzählstil kommentiert er mit einer weiteren Regel: niemals selbst eine Geschichte zu erzählen, sondern sie von dritter Seite erzählen zu lassen. Autorschaft sei nicht nur hinter der Autorität eines korrespondierenden Dritten verborgen, sondern auch in einen Ablauf vom Mund zum Ohr eingewebt, in dem die Geschichte sich gleichsam unendlich variiert zwischen den Polen einer Ereignisdarstellung als Ereignis und einer objektiv vergangenen Geschichtsbehauptung. Gelten diese Regeln, die das Erzählen als sozialen, nicht als ästhetischen Akt betrachten auch für die fotografische Erzählung?

Dem Einwand, der Fotograf habe außer in der Spezialität des Selbstporträts überhaupt nicht die Möglichkeit, ein ‚ich‘ zu artikulieren, muss folgendermaßen begegnet werden. Die Einfügung des Pronomens ‚ich‘ in der Rede meint nicht den Blick auf sich selber, sondern eine Wesensschau. Niemals ist als ‚ich‘ eine Sichtbarkeit gemeint, sondern ein transzendierender Akt, ‚Schau‘. Sehen und Schauen sind für Benjamin zwei fundamental unterschiedliche Verhältnisse zur Welt. Die Raffinesse der Benjaminschen Erzählungen, die er in seinen Reisebeschreibungen als Ibizenkische Folge2Benjamin, GS Bd. IV, S.402-409. teilweise veröffentlichen kann, erklärt sich darin, das neue Sehen sichtbar zu machen, es zu benennen und damit dem einzigartigen Gefühl der Situation in diesem Sommer 1932 auf Ibiza zu entziehen. Dazu muss das Sehen in einem Medium der Schau übertragbar gemacht werden. Das gelingt Benjamin nicht durch fotografische Erzähltechniken, sondern durch eine parabelartige Korrespondenz, mit der die urtümlichen Dinge und Arbeiten der Inselbewohner als neue Avantgarde gefeiert werden. Es ergibt sich nämlich, dass unter den anbrechenden politischen Gewittern viele Künstler und auch erste Touristen die Weltabgeschiedenheit der Insel für sich zu entdecken beginnen. Darunter auch kulturwissenschaftlich Interessierte, die sich fotografisch dem katalanischen Erbe vor allem der einzigartigen Architektur nähern. Es ist eine Folge der Rückständigkeit der kleinen Insel, dass dort viele Dinge des bäuerlichen Lebens oder der Fischer in Gebrauch sind, für die es eigentlich keine Übersetzung aus dem Katalanischen gibt. Diese Dinge sieht Benjamin zum ersten Mal. Er erblickt sie unabhängig von Gebrauch und Gewohnheit, mit denen man gewöhnlich die zuhandenen Dinge straft. Die Erfahrungsarmut dieses Blicks, der eigentlich der Blick der Avantgarde ist, ist nicht durchwebt von den Geschichten und Projektionen des Lebens, von ihrer visuellen Abnutzung. Eben dieser Blick aufs ‚Neue‘ verlangt eine Projektion fiktiver Identifikation. Die Geschichte der Dinge muss neu erfunden werden. Ihr fiktiver Gebrauch ist Erzählung. Die Dinge und Atmosphären der Insel in ihrer Einmaligkeit erzählerisch darzustellen, so dass sie dem Leser als Ereignis aufscheinen, ist Benjamins Antrieb zu endlosen, oft einsamen Spaziergängen. In die Einsamkeit fügt sich kein Ich ein, das sonst als ständiger Begleiter präsent ist. Erst die Konstruktion einer erzählerischen Schau, das Nicht-Ich-für-andere, eröffnet für den feinbürgerlichen, aber mittellosen und stolzen Exilanten Benjamin eine soziale Dimension, die ihn von gelegentlichen Selbstmordgedanken abbringt.

Ist es mit der Fotografie nicht so, dass sie dieses einmalige Sehen des Neuen, so alt es auch sein mag, als Ereignis sucht? Die Suche als eigentümlicher Lauf des Lebens, die seiner Zeitlichkeit, ist etwas, das die Fotografie nicht leisten kann: Nur das Gegenwärtige, das jetzt in diesem Augenblick von der Sonne beschienen ist, eignet ihr als Material. Das lässt Rückschlüsse auf den Fotografen zu, der als Amateur stets sich am Festhalten der Gegenwart abarbeitet. Weil das nicht gelingen kann, weil im Foto zwar das Gesehene, nicht aber die Schau memoriert ist, gibt es professionelle Fotografie. Denn alles, was niemals gelingt, fällt dem Militärischen anheim.

Das Ich ist nun gerade niemals als Gegenwärtiges zu vergegenwärtigen, sondern stets nur in Bezug auf eine Zukunft oder eine Vergangenheit. Man kann nicht sehen und reflektieren zugleich. Das Ich ist die unabschließbare Geschichte seiner selbst.

Die radikale Differenz der Zeitdarstellung zwischen Fotografie und Erzählung hat theoretische Folgen für die diskursive Bestimmung des Mediums Fotografie, sofern damit die Frage nach ihrem Wesen gemeint ist. Unter Theorie theoria wird nämlich eine ‚Schau‘ verstanden – ‚schauen‘ oder ‚erschauen‘ meint lesen als deuten, im Sinne einer Wesensschau, eines Blicks über die Gegenwärtigkeit hinweg. Weswegen der Begriff ‚Schau‘ im alten Sinne magische oder ‚hellseherische‘ Fähigkeiten umfasst, das meint, aus einem Sehen des Gegenwärtigen, die beiden Zeitstasen Zukunft und Vergangenheit zu deuten und zwar auf die gleiche Weise wie Benjamin auf Ibiza die Urtümlichkeit der sonderbaren Dinge und Kulte deutet. Selten werden diese priesterlich-schamanistischen Fähigkeiten vom wissenschaftlichen Universalitätsanspruch entbunden. Die Theorie der Fotografie sollte, sofern sie nicht technisch oder historisch ist, auf dem nach wie vor magischen Akt des deutenden Lesens bestehen und zwar gerade dann, wenn eine inflationäre Fotografie Kraft der Autorität ihrer Vergegenwärtigung ein Deutungsmonopol beansprucht.3Wobei es nicht um die Monopolisierung an sich geht, sondern um die hohe Not, dass eines Tages die Gegenwart als Bewusstsein (Gegenwärtigsein) verschwinden wird. Dass sie täglich noch durch die Traumerlösung gerettet wird, macht den Zweifel nicht wett, dass – im Gegensatz zum Bewusstsein – etwas noch anderes auf dem Spiel steht: das Selbstbewusstsein. Wo Magie aber noch gelegentlich angefunden wird, da ist sie Philosophie als Literatur.

Benjamins Texten über die Fotografie, aber auch denen von Susan Sonntag oder Roland Barthes wird man schwerlich Ingenieursabsichten unterstellen. Sie kommen nicht im modernen Sinne ‚theoretisch‘ daher, sondern sind eher Geschichten,oder besser, Anschauungen über Fotografie, die sich nur gelegentlich einem einzelnen Foto widmen und nur selten die Frage nach der ontologischen Gegenwart der Fotografie stellen. Diese ontologische Fragestellung: „Was ist die Fotografie?“ trifft man jedoch häufig unter Fotografen oder in der medienwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Fotografie an, manchmal mit der Relativierung: „Was ist die Fotografie heute?“: Kunst, Technik, Mittel der Dokumentation, etc. – alle diese Antworten lesen sich als vorschnelle Entschuldigungen. Oder, wie Hans Ulrich Reck jüngst angesichts der gegenwärtigen Digitalisierung erörtert: die Fotografie, das ist die Beschaffung visuellen Materials.4Hans Ulrich Reck: Visuelle Präsenz und Kritik der Bildlichkeit. Vom diversen Umgang mit Bildern. In: Kunsttexte.de 1/2012-1. Die Fotografie liefert den Rohstoff für multiple Gegenwärtigkeit, einen Rohstoff, den man beliebig archivieren, manipulieren und sogar simulieren kann, kurz, die Präsenz der Welt auf dem Tableau des Visuellen.

Wenn man Recks Betrachtungsweise mit derjenigen Benjamins vergleicht, fällt auf, dass unter ihr das Signum der Schau wieder eingeführt wird. Weil nämlich die Frage nach dem Sein der Fotografie (Was ist die Fotografie?) lediglich im fotografischen Gestus beantwortet werden kann – als einem gegenwärtigen ‚flash‘ auf die Fotografie oder die Summe aller Fotos – führt Reck der ontologischen Fragestellung eine dialektische entgegen, die die fotografische Gegenwart (den Augenblick, in dem ein Foto ‚geschossen‘ wird) in Verhältnis zu ihrer zukünftigen Verwendung, Umarbeitung, Manipulation setzt und damit den einmaligen Augenblick in die Geschichtlichkeit seiner zukünftigen Betrachtung verlängert – so, wie Barthes das Bildnis seiner verstorbenen Mutter und die Bildnisse seiner Kindheit betrachtet und darin das Wesen der Fotografie erschaut (nicht: erblickt). Was Reck intendiert, ist nicht nur, diesen ‚neuen‘, Hegelschen Gestus des Werdens zur Überwindung der Ontologie der Fotografie einzuführen, also die Geschichtlichkeit der Dinge anzumahnen, er legt auch gleich den Finger in die Wunde der Hegelschen Dialektik, die mit der Geschichtlichkeit das konkrete Werden und Vergehen alles menschlichen Weltbezugs meint. Was nämlich Barthes am fotografischen Porträt der Mutter festzuhalten wünscht, gebiert als essayistische Erzählung das Werden. Die einzige Weise, in der Fotografien betrachtet werden können, ist, in ihnen die verlorene Geschichte wieder auffindbar zu machen, die durch ihren Akt zerstört worden ist.

Aus der ontologischen Betrachtung wird demnach eine dialektische und aus der dialektischen eine ökonomische. Die ökonomische Theoriestellung widmet allerdings nicht mehr dem Produkt die Aufmerksamkeit, sondern dem Produktions- und Konsumtionsvorgang ausgehend vom Rohstoff: dem visuellen Material. Sie fragt nach Opfer und Gewinn im Akt der Vergegenwärtigung, die Zerstörung und die Findung von Geschichte, d.h. von Erfahrung und von Ich-Bewusstsein. Neben der Materialverarbeitung und seiner Warenzurichtung steht damit der Fotograf als Produzent von Subjektivität im Fokus der theoretischen ‚Schau‘, d. h. der Geschichte der Theorien der Fotografie oder schlicht der Philosophie der Fotografie.5In Wahrheit ist diskursgeschichtlich die Theorie der Fotografie nur ein Nebenschauplatz der Moden der Bildwissenschaft, die in Zeiten antidialektischen und antimaterialistischen Denkens (und Arbeitens!) reüssiert. Die Frage, die dahintersteht, ist die der Identität: des Subjekts mit der Welt als Gegenwart und der Selbstvergegenwärtigung, der Identität als Selbstbewusstsein. In der Geschichte der Profanisierung, respektive der Verschiebung des Säkularen in die Wissenschafts- und Mediengläubigkeit hinein, die Identität eines ‚globalisierten Bewusstseins‘, zerfällt allerdings jede Bewusstseinsphilosophie, was sich am deutlichsten in der existentialistischen Wende Sartres und der ‚Kehre‘ Heideggers ablesen lässt, die damit zu Saumgängern der Philosophie werden. Adorno hat das mit folgenden Worten im Gegensatz zur Ontologie Heideggers und durchaus mit Rücksicht auf die Benjaminsche Magie formuliert: „Die aufklärende Intention des Gedankens, Entmythologisierung, tilgt gerade den Bildcharakter des Bewusstseins. Was ans Bild sich klammert, bleibt mythisch befangen, Götzendienst, und der Inbegriff der Bilder fügt sich zu dem Wall, der vor die Realität sich schiebt; Dialektik aber heißt, um des einmal erfahrenen Widerspruchs willen in Widersprüchen zu denken.“ Der Einwand Adornos wendet sich gegen ein Denken in der Identität der Bilder als Realität, gegen eine Dialektik, deren Verfallsform das Paradoxon (Kierkegaard) ist und gegen eine Ontologie, deren Lösungsansatz ungeschichtlich bleibt. Adornos Appell bezieht sich darauf, die Dinge wieder in Arbeit (Denkbewegungen) zu bringen und die wissenschaftlichen Lösungsverheißungen der Widersprüche als Teil der kapitalistischen Aufschubsbewegungen der Opferprogression zu begreifen. Theodor W. Adorno: Ontologie und Dialektik (1960/61), Nachgelassene Schriften Abteilung IV, Vorlesungen Bd.7, Frankfurt am Main 2002, S.333. Hier erzählt uns die Fotografie eine Geschichte ihrer Anschauungen, die nicht die der Geschichte ihrer Blicke ist, deren spontanster, etwa von Krauss […] sich in der Fragestellung formuliert, ob die Fotografie Kunst sei oder lediglich ein technischer Effekt.6Zur historischen Analyse der Beschäftigung Benjamins mit Fotografie vgl. Rolf H. Krauss: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern 1998.

Auf diese Fragestellung ist Benjamin in seinem Aufsatz über die Reproduzierbarkeit eingegangen, indem er erklärt, dass der Effekt die Vorstufe zum Stil ist, aber einem Stil, der nicht in dem Medium sich entfalten kann, aus dem nothaft der Effekt sich als Manier herausarbeitet. Benjamin legitimiert seine Anschauung an der Malerei, den Materialgedichten und Collagen der Dadaisten.7Benjamin, GS Bd. I, S.500ff Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Abschnitt XIV). Ihre Burlesken, die sich aus den konventionellen Künsten emanzipieren wollen, sind eigentlich solche, die im Medium Film um und nach dem Ersten Weltkrieg ihr effekthaftes Gegenstück entwickeln. Wie aber der Film in sich alle Arten der Zeit- und Raummontagen versammeln kann, so kann nur die Fotografie alle Arten der Vergegenwärtigung versammeln. Und sie tut das so übermächtig und erfolgreich, dass durch sie ebenfalls ein neues Medium generiert wird: die Gegenwart selbst. Nicht die Gegenwart der vermittelten Erzählung ist damit gemeint, sondern die der ‚artifiziellen Präsenz‘8Vgl. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005. , einer Präsenz, die als nachträgliche inszenierte erscheint.

Der Einwand, die Fotografie als Medium unter Medien in einen Topf etwa mit der Illustration, der Malerei oder anderen Bildentäußerungen zu stecken – dem visuellen Rohstoff –, kann relativiert werden, indem man die Frage nach dem Status des Produzenten stellt, der als Fotograf sein Produkt in den ökonomischen Kreislauf bringt. Das schließt die Fotografie als Kunst ausdrücklich mit ein. Auch wenn die Kunst sich zuweilen unökonomisch situiert, ist sie doch nicht anökonomisch. D.h. sie ist selbst als Minimal Art der menschlichen Produktion und einem Rohstoff unterworfen. Es ist ein Kennzeichen unserer Mediengesellschaft und Medieninszenierungen, dass sie die unvermittelte Gegenwart, die Aufmerksamkeit für ihren wichtigsten Rohstoff erklären. Dieser Rohstoff ist begrenzt. Er erklärt alle gegenwärtigen sozialökonomischen Beziehungen. So erscheint die Saison der sozialen Netzwerke als modistische Strömung, in der Aufmerksamkeit sich als Rohstoff für Reklame anbietet, in der nicht die Teilhabe am Sozialen, sondern am Konsum im Mittelpunkt steht. Als Produktionsabfall sind die nicht unbeträchtlichen Kosten der elektrischen Energie, als Konsumgut die kurze Halbwertszeit der vermittelten Kontakte zu verbuchen. Solcher statistischen Soziologie, einem Rattenfängertum, steht die direkte zeitintensive und Zeit kreditierende vertrauensbildende Form der Vergemeinschaftung gegenüber. Sie lebte bis vor kurzem von einem anderen Medium: dem Schuhkarton. Der Produzent der Bildersammlung, die den Karton unterhielt, verstand sich als Archivar der Familie und belohnte seine Arbeit mit der sozialen Zeit, die nichts anderes war als eine ausgedehnte, manchmal träge, manchmal langweilige Gegenwart ritualisierter Wiederholungen: Hochzeiten, Taufen, Schulbeginn. Der Schuhkarton war der Verwahrer einer Reise des Lebens auf einer Insel, auf der die Fotografien als Zeichen den Weg markieren.

Die Reise als Lebensweg zeigt, dass das Ich nicht im Besitz und nicht als Folge von Gegenwärtigkeiten existiert, sondern als Folge von Vergegenwärtigungen. Solche sind sinnlich nicht zu fassen, denn was ich bin, muss ich durch alles Sinnliche hindurch erscheinen. Benjamin sprach von einer unsinnlichen Ähnlichkeit, die die Fotografie gerade nicht favorisiert. Es ist das Reich der Sprache, in der solche unsinnliche Ähnlichkeit im mimetischen Vermögen korrespondiert.9Benjamin, GS Bd. II, S.210 Über das mimetische Vermögen. Die Korrespondenzen zwischen dem Sinnlichen, dem visuell Gegenwärtigen des fotografischen Augenblicks und der sprachlichen Identifizierung sind als zwei Zahnkränze eines Radlagers zu verstehen, auf die sich die Kette umlegt. Nur für einen kurzen Moment der Kupplung wird der Schwung der Fahrt unmerklich und sehr leicht unterbrochen. Ereignis (der fotografische Augenblick) und Situation (die Erzählung, die ihn verbindet und identifizierbar macht), lassen sich nicht voneinander trennen, außer eben in diesen leichten Momenten, die literarisch zu nennen sind und die immer dann sich anbahnen, wenn ein Medium in Effekten hängen bleibt. Zur Präzisierung der Ästhetik der Zeitlichkeit lohnt es sich, auf eine Geschichte Benjamins einzugehen, die er auf Ibiza notiert, und die den vielsagenden Titel Die Mauer10Benjamin, GS Bd. IV, S.755f Geschichten aus der Einsamkeit: Die Mauer. Vgl. zu den beiden Aufenthalten Benjamins auf Ibiza die detaillierte Studie von Vicente Valero: Der Erzähler. Walter Benjamin auf Ibiza 1932 und 1933. Berlin 2008, bezüglich der Episode mit der Mauer S.147ff. trägt. Wir denken uns nur vorweg begleitend diese Mauer, die Gangwechsel verbindet und trennt zwischen der Aktualität des sichtbar Gegenwärtigen und der Imagination des unsichtbar sich Ereignenden als Schicksal, Zufall, manchmal als glücklichen Augenblick.

Benjamin spaziert also in die winzigen Dörfer, die oftmals die Namen von Heiligen tragen. Gegen die Erzählregel erscheint in der Darstellung – oder ist es doch eine Erzählung? – ein ‚ich‘. Aber was ist das für ein ‚ich‘?

 „Eines Nachmittags stieß ich bei meinen Irrgängen auf einen Kramladen, in dem Ansichtskarten zu haben waren. Jedenfalls hatte er einige im Fenster, in ihrer Zahl das Photo von einer Stadtmauer, wie sie viele Orte in diesem Winkel erhalten haben. Ich hatte aber eine ähnliche nie gesehen. Der Photograph hatte ihren ganzen Zauber erfasst, und sie schwang sich durch ihre Landschaft wie eine Stimme, wie ein Hymnus durch die Jahrhunderte ihrer Dauer. Ich versprach mir, diese Karte nicht eher zu kaufen, bis ich die Mauer, die auf ihr abgebildet war, selbst gesehen hätte.“11Benjamin, GS Bd. IV, S.755.

Einzig die Unterschrift der Postkarte „S. Vinez“ leitet Benjamin auf der Suche nach diesem Ort, den er als San Vinez zu identifizieren meint. Es dauert eine Weile, bis er nach dem Studium alter Karten die Vermutung hat, der Name sei nur unter Einheimischen, nicht aber in den Archiven geläufig. Ein abendlicher Spaziergang mit einem Begleiter unter Pinienwipfeln und Windmühlen, im ersten Mondenlicht des vorgerückten Abends lässt ihn unvermittelt „die Mauer, deren Bild mich seit Tagen begleitet hatte“ erkennen. In diesem Moment vertauschen sich Bildbewusstsein und Realbewusstsein in der Wanderung, die einer Sprache hymnischer Stimme folgt. Das Erkennen der Mauer im Mondlicht ist ihre Erschaffung nach der Fotografie, die als Plan einer Zukunft sich enthüllt. Die lange Suche dient nur dem Zweck, die Autorität der Realität, die jede Fotografie behauptet, ihr zu entreißen und selbst sie zu sein, das heißt also ‚Ich‘ zu sein.

In dieser Form ist die Fotografie das Modell der Autorität des Ichs. Dass die Metapher der Mauer, ihr verfallener Zustand nach Jahrhunderten, die das Mondlicht auf der Grenze zwischen dem Imaginären und dem Realen beleuchtet, jenem Gangwechsel gleichkommt, der bei Benjamin unter der Formel ‚erwachendes Bewusstsein‘ firmiert, kann im Schlussstein der Erzählung überprüft werden. Es stellt sich nämlich die Frage nach der Autorität des Fotografen gegenüber der Autorität der Fotografie.

Am nächsten Tag steht Benjamin erneut vor dem Kramladen. „Die Ansichtskarte hing noch im Fenster. Über der Tür aber las ich auf einem Schild, das mir vorher entgangen war, mit roten Lettern ‚Sebastiano Vinez‘.“12Ebd., S.756. Bd., S.756 Es war der Name des Fotografen und nicht der eines heiligen Ortes, dem er unversehens auf seiner Suche gefolgt war! In soziologischer Hinsicht ist auf den Aspekt der Kreditierung der Fotografie einzugehen: Die Fotografie, die angeblich das Vertrauen in die Realität einübt, wird zu deren Simulant. Der Wunsch nach einer bürgerlichen Welt des Besitzes, wie sie das 19. Jh. lehrt, wird heute zu einem Wunsch nach der Verwandlung aller Dinge in Bilder, d.h. in vergegenwärtigte Ereignisse, in der die Gegenwart eine durch die fotografische Anschauung inszenierte ist. Wenn die Realität fotografisch geworden ist, bleibt noch die Verdinglichung der Träume. Ihre Inbesitznahme und Verwertung gelingt dem Film. Die Korrespondenz von Fotografie und Film ist die des Modells. „Das Bild kann verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es wirkt durch seine Entstehung, durch die Ontologie des Modells, es ist das Modell.“13André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes (1945). Abgedruckt in: Wolfgang Kemp. Theorie der Fotografie III, 1945-1980. München 1999, S.63. Wer das Modell verkauft, statt die Sache selbst, macht einen guten Schnitt. Der ontologische Charakter dieser Einsicht von Bazin aus dem Jahre 1945 ist hier überspitzt wiedergegeben. Bazin gesteht am Schluss seines Aufsatzes dem Film, nicht der Fotografie, zu, eine „Sprache“ zu sein, erklärt dies aber nicht weiter. Die Erklärung liefe darauf hinaus, uns auf der Insel unserer gesicherten Wahrnehmungen zu verirren und die Mauer zwischen der Sprache und dem Bild, die durch die fotografische Durchdringung alles Visuellen sehr hoch geworden ist, zu suchen. Wie geht das im Zeitalter multimedialer und szenografischer Simulation von Gegenwart als ganzer? In Inszenierungen, Modellen, Simulationen, also fiktionaler Realität, kann es sich darum handeln, entgegen dem technischen Zug der Genauigkeit und Identität, die menschlichen Sinne in ihrer ästhetischen Funktion wieder zu entdecken. Es ist nicht wichtig, was man auf dieser Reise fotografiert, sondern, dass man versucht, durch den fotografischen Apparat nicht das Sichtbare, sondern das Erschaute abzubilden. Das ist eine theoretische Forderung, die jederzeit praktisch misslingt. Aber sie misslingt so präzise und so modellhaft, dass man tatsächlich dem Glauben unterliegt, auch die geschaute Welt, ich selbst, könnte eines Tages mein Leben auf einem Foto bannen, so wie der Tod des Märtyrers im Augenblick des Todes seine Heiligung erwirkt: „S. Vinez“.

Den magischen Akt des gelingenden Scheiterns, den Benjamin in seinen ibizenkischen Denkbildern konstruiert, beruht darauf, die Ökonomie zwischen Lesen und Sehen, zwischen Schauen und Hören in Bewegung zu bringen, sie und sich auf dieser Insel zu isolieren. So wird auch der Exilant ein Produzent. Die Methode, derer er sich bedient, ist das Erzählen in magischen Bildern. Deren Autorität hat den Vorzug, jederzeit von einem ‚ich‘ bezweifelt werden zu können.

  • 1
    Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1980, Bd. VI, S.475.
  • 2
    Benjamin, GS Bd. IV, S.402-409.
  • 3
    Wobei es nicht um die Monopolisierung an sich geht, sondern um die hohe Not, dass eines Tages die Gegenwart als Bewusstsein (Gegenwärtigsein) verschwinden wird. Dass sie täglich noch durch die Traumerlösung gerettet wird, macht den Zweifel nicht wett, dass – im Gegensatz zum Bewusstsein – etwas noch anderes auf dem Spiel steht: das Selbstbewusstsein.
  • 4
    Hans Ulrich Reck: Visuelle Präsenz und Kritik der Bildlichkeit. Vom diversen Umgang mit Bildern. In: Kunsttexte.de 1/2012-1.
  • 5
    In Wahrheit ist diskursgeschichtlich die Theorie der Fotografie nur ein Nebenschauplatz der Moden der Bildwissenschaft, die in Zeiten antidialektischen und antimaterialistischen Denkens (und Arbeitens!) reüssiert. Die Frage, die dahintersteht, ist die der Identität: des Subjekts mit der Welt als Gegenwart und der Selbstvergegenwärtigung, der Identität als Selbstbewusstsein. In der Geschichte der Profanisierung, respektive der Verschiebung des Säkularen in die Wissenschafts- und Mediengläubigkeit hinein, die Identität eines ‚globalisierten Bewusstseins‘, zerfällt allerdings jede Bewusstseinsphilosophie, was sich am deutlichsten in der existentialistischen Wende Sartres und der ‚Kehre‘ Heideggers ablesen lässt, die damit zu Saumgängern der Philosophie werden. Adorno hat das mit folgenden Worten im Gegensatz zur Ontologie Heideggers und durchaus mit Rücksicht auf die Benjaminsche Magie formuliert: „Die aufklärende Intention des Gedankens, Entmythologisierung, tilgt gerade den Bildcharakter des Bewusstseins. Was ans Bild sich klammert, bleibt mythisch befangen, Götzendienst, und der Inbegriff der Bilder fügt sich zu dem Wall, der vor die Realität sich schiebt; Dialektik aber heißt, um des einmal erfahrenen Widerspruchs willen in Widersprüchen zu denken.“ Der Einwand Adornos wendet sich gegen ein Denken in der Identität der Bilder als Realität, gegen eine Dialektik, deren Verfallsform das Paradoxon (Kierkegaard) ist und gegen eine Ontologie, deren Lösungsansatz ungeschichtlich bleibt. Adornos Appell bezieht sich darauf, die Dinge wieder in Arbeit (Denkbewegungen) zu bringen und die wissenschaftlichen Lösungsverheißungen der Widersprüche als Teil der kapitalistischen Aufschubsbewegungen der Opferprogression zu begreifen. Theodor W. Adorno: Ontologie und Dialektik (1960/61), Nachgelassene Schriften Abteilung IV, Vorlesungen Bd.7, Frankfurt am Main 2002, S.333.
  • 6
    Zur historischen Analyse der Beschäftigung Benjamins mit Fotografie vgl. Rolf H. Krauss: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern 1998.
  • 7
    Benjamin, GS Bd. I, S.500ff Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Abschnitt XIV).
  • 8
    Vgl. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt am Main 2005.
  • 9
    Benjamin, GS Bd. II, S.210 Über das mimetische Vermögen.
  • 10
    Benjamin, GS Bd. IV, S.755f Geschichten aus der Einsamkeit: Die Mauer. Vgl. zu den beiden Aufenthalten Benjamins auf Ibiza die detaillierte Studie von Vicente Valero: Der Erzähler. Walter Benjamin auf Ibiza 1932 und 1933. Berlin 2008, bezüglich der Episode mit der Mauer S.147ff.
  • 11
    Benjamin, GS Bd. IV, S.755.
  • 12
    Ebd., S.756. Bd., S.756
  • 13
    André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes (1945). Abgedruckt in: Wolfgang Kemp. Theorie der Fotografie III, 1945-1980. München 1999, S.63.