Holger Kube Ventura

Kunstfotografie ohne Fotograf

In seinem Essay untersucht der Ausstellungsmacher den Umgang mit fremdem Bildmaterial, bei dem der ursprüngliche Kontext entfernt und das Medium selbst thematisiert wird. Praktiken der Collage und der Rekombination wie auch „taktische Bildflutungen“ stehen im Zentrum der Bildpolitik einer mediatisierten Gesellschaft, die nach Kube Ventura ein stärkeres Hinterfragen der Verwendung und Rezeption von aktuellen Bildmilieus erfordert.

Hier setzen zeitgenössische künstlerische Strategien an, die sich auf die Mediatisierung von Ereignissen und die Bilder im kollektiven Gedächtnis beziehen. Das Sortieren, Organisieren und Rekombinieren fremden fotografischen Materials wird dabei zum Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit.

Die Geschichte der Fotografie hat eine durchgängige und ganz eigenständige Parallelgeschichte, nämlich jene einer Fotografie ohne Kamera. Sie beginnt noch vor der Erfindung der Fototechnik, als vor bald 300 Jahren die Wirkung von Licht auf Silberverbindungen entdeckt wird. Anfang des 19. Jahrhunderts kommt diese Parallelgeschichte mit den Experimenten von Niépces und Fox Talbot zur Entfaltung, und schaut man zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf die surrealistischen, dadaistischen oder konstruktivistischen Fotogramme von Künstlern wie Man Ray, Schad, Hausmann, Moholy-Nagy, El Lissitzky oder Schwitters, dann scheint die Kunstfotografie ohne Kamera eine fast wichtigere Rolle zu spielen als die mit. Das fotografische Bild ohne Kamera scheint besser geeignet zu sein, um zu echten Abbildungen der Welt bzw. zu tatsächlich freien Konstruktionen zu kommen. Ab den 1930ern und dann für die nächsten etwa fünf Jahrzehnte entstehen weitere off camera-Verfahren wie etwa Luminogramme und informelle, fotochemische Malereien. Im Zuge der Entmaterialisierung der Fotografie sind sie heute allesamt so gut wie ausgestorben.

Ins Zentrum gerückt ist stattdessen eine Fotografie ohne Fotograf, nämlich Verfahren, bei denen fremdes Bildmaterial zu neuen Kompositionen verarbeitet wird. Das betrifft zunächst den gesamten Bereich der Foto-Collage (früher analog, heute digital), bis hin zu extremen Bildsimulationen. Insbesondere aber gilt es für all jene Konzepte, wo Bilder gesammelt, strukturiert und angeordnet werden, um z.B. Typologien und darüber dann Thesen zu entwickeln: Seit langem gibt es zahlreiche Künstler, denen es nicht mehr um das Herstellen einzelner Fotos oder gar das Auslösen einer eigenen Kamera geht, sondern um den Zugriff auf zufällig gefundenes oder gezielt zusammengetragenes Bildmaterial aus dem Netz, von Bildportalen, Webcams oder Videokanälen. Anders als die berühmten Fotoreporter werden die Schöpfer einer solchen Kunstfotografie ohne Fotograf natürlich nicht als Ausnahmeproduzenten mit Geistesgegenwart, Disziplin oder Risikobereitschaft angesehen, denen es gelang, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und dort einmalige Fotos zu schießen. Stattdessen weisen ihre Werke in genau die entgegengesetzte Richtung: weg vom Autor, weg vom subjektiven Moment. Das Barthes’sche punctum1Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1982wird in Strukturen, Kontexten und in der Auflösung des Einzelbildes gefunden.

Der Umgang mit fremdem fotografischen Bildmaterial könnte als die Kehrseite der Fotografie bezeichnet werden. Denn hier wird nicht durch einen Sucher auf die Welt geschaut, um aus dieser dann visuelle Abdrücke zu entnehmen und darüber zu reflektieren. Stattdessen wird in Archiven und Datenbanken gestöbert auf der Suche nach signifikanten oder poetischen Prinzipien oder Häufungen. Wer auf diese Weise arbeitet, hat ein anderes Verhältnis zum Material. Denn wie eng dessen Verbindung zur Wirklichkeit ist, kann von Anfang an nicht gesagt werden bzw. ebendies scheint von Anfang an weniger wichtig zu sein. Ausgangspunkt sind nicht Teile der realen Welt, sondern Bilder davon. Ihre Herkunft und ursprüngliche Funktion, ihre Heteronomie, kann dabei eine Rolle spielen oder zum Thema werden, sie kann aber auch gleichgültig sein oder negiert werden. Wer so arbeitet, braucht die reale Welt nicht mehr, um visuelle Aussagen über sie zu treffen. Anders ausgedrückt: Man hält die Mediatisierung der Welt für einen genuinen Bestandteil derselben und geht davon aus, dass tatsächliche Beobachtungen zweiter Ordnung möglich sind. Daran sind wir gewöhnt.

Das Organisieren von Bildern (die Kunstfotografie ohne Fotograf) gewinnt zunehmend an Bedeutung und lässt das Produzieren von Fotos (die klassische Fotografen-kunst) in den Hintergrund treten. Warum ist das so? Erinnern wir uns zunächst kurz an die Grundunterscheidung zwischen Foto und Bild: Ein Foto von Etwas ist ein (physikalisches) Abbild von diesem. Ein Bild von Etwas hingegen wäre das, was darin gelesen wird, also sein gemachter Eindruck. Zwar ist jedes Foto zugleich ein Bild, aber Foto und Bild sind nie identisch. Man kann von und zu Allem ein Bild machen, aber – wie Kendall Walton sagt – „nur wirkliche Dinge lassen sich fotografieren. Es gibt keine Fotos von Einhörnern, obwohl es viele Bilder von ihnen gibt.“ 2Kendall L. Walton, „Fotografische Bilder“. In: Kunst und Philosophie. Bd. 5 Fotografie zwischen Dokumentation und Inszenierung. Hg. J. Nida-Rümelin u. J. Steinbrenner. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012, S. 18Die wesentliche Eigenschaft des fotografischen Bildes ist die Verknüpfung von Indexikalität (also der objektiven Merkmalsaufzeichnung) und Ikonizität (also der Bildwerdung), wobei Erstere als Beglaubigung von Letzterer dient. Daher kommt der bis heute wirkende Beweischarakter der Fotografie, ihre scheinbare Objektivität als Produkt eines optischen Aufzeichnungsgerätes.

Stellen wir uns einen C-Print vor, gerahmt und in durchschnittlicher Größe, der eine durch und durch schwarze Fläche zeigt. Keine Form, keine Kontur ist darauf zu identifizieren, nur die Farbe bzw. der Helligkeitswert Schwarz ist zu sehen. Stellen wir uns nun vor, als Titel dieses Bildes wäre zu lesen: Objektivdeckel im Einsatz. Dadurch würde der C-Print erstens suggerieren, ein Foto zu sein und zweitens, dass Foto und Bild synchron wären. In Wirklichkeit ist es kein Foto, es kann kein Foto sein, denn kein Licht traf auf einen Sensor oder einen Film, nichts vor einem Objektiv kann hier aufgenommen worden sein. Was wäre, wenn der Titel stattdessen lauten würde: Trockenes Altöl? Oder: Sternenloser Nachthimmel?

Zyklisch wiederkehrend wird als Zäsur ausgerufen, dass fortan dem Auge wirklich nicht mehr zu trauen sei und die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Simulation verwischen. Das war zum Beispiel Ende der 1980er so, als die Digitalisierung den uneingeschränkten Zugriff auf Bildpunkte zu versprechen begann und Medientheoretiker daraufhin Fotografie und Video als eine Art von Malerei zu denken versuchten. Zwar hat das Kinopublikum von Steven Spielbergs Jurassic Park bereits 1993 (ein Jahr nachdem William J.T. Mitchell den „pictorial turn“ ausgerufen hatte) wahrscheinlich nicht mehr angenommen, dass es sich bei den erstaunlich realistisch gefilmten Echsen ebenso gut um Roboter handeln könnte. Aber das Erstaunen über die neue Simulationsqualität war immerhin noch so groß, dass Saurier zum bestimmenden Thema eines langen Sommers werden konnten. Obschon man allerspätestens seit diesem Film weiß, dass Fotos nicht nur kaum, sondern tatsächlich gar nicht zu trauen ist, funktionieren sie immer noch als Beweise, sogar in Gerichtsprozessen. Seltsamerweise tritt hinsichtlich ihrer Unzuverlässigkeit kein Gewöhnungseffekt ein und diesbezügliche Prognosen erweisen sich immer wieder als falsch. Zu behaupten, dass Fotografie heute keine dokumentierende Funktion mehr habe, wäre also genauso falsch wie richtig. Ganz sicher aber hat Fotografie – aufgrund des unverwüstlichen Glaubens an ihre Indexikalität – nach wie vor eine dokumentarisierende Funktion: Was sie zeigt, muss anscheinend – egal wo es herkommt – irgendwann auf der Welt gewesen sein. Objektivdeckel, Altöl oder Nachthimmel.

Ein zunehmendes Reproduzieren und Registrieren der Gegenwart ist zu beobachten. Das Einfrieren der Zeit, das Abbilden, Spiegeln und Duplizieren der Welt lässt diese verfügbar erscheinen: Wir können sie sammeln, sortieren und arrangieren, wir können sie verkleinern, vergrößern und beliebig modifizieren. Eigentlich ist es zwar so, dass Fotos eher zufällige Wirklichkeitsausschnitte auf Dauer stellen. Von mir zum Beispiel gibt es aus vielen Lebensjahren nur sehr wenige oder gar keine Fotos: vereinzelt mal einen Schnappschuss aus irgendeinem Urlaub, ein übrig gebliebenes Passfoto, das Aufstellungsfoto im Verwandtenkreis, etc. Diese wenigen Fotos objektivieren aber, sie haben eine gewisse Macht über Vergangenheit und Gegenwart, weil sie sowohl mein eigenes als auch ein kollektives Gedächtnis nicht nur besetzen, sondern auch leer halten können von anderen Bildvorstellungen. Die eigentlich banalen Fotos werden zu Bildern von Bedeutung, indem sie Vergangenes zu einem Monolithen transformieren, der in die Gegenwart hineinragt: Beim damaligen Auslösen der Kamera wurde ein Sekundenbruchteil Wirklichkeit eingefroren und dann auf eine Reise durch Raum und Zeit geschickt. 3Vgl. Ines Schaber, „Fotografie und Kunst. Drei Fragen an Ines Schaber.“ In: 5. Europäischer Monat der Fotografie. Hg. Kulturprojekte Berlin GmbH. Bielefeld: Kerber, 2012, S. 22Natürlich verbindet auch ein alter Schuh Orte und Zeiten, sowohl im wörtlichen Sinne, als auch in der Erinnerung, die uns wissen lässt, wo wir mit ihm gewesen sind. Aber nur das Foto zeigt das Gesicht der vergangenen Wirklichkeit. Peinlich ist das besonders dann, wenn es sich um ein unvorteilhaftes Bild handelt. Das fotografische Einfrieren kann eine grausame Entstellung sein, man denke nur an all die Porträts, die beim Essen und Kauen entstehen. In seinem Roman Auslöschung (1986) kommt Thomas Bernhard daher zu dem Schluss, dass die Fotografie gerade aufgrund ihres Aufzeichnungsmoments eben nur Sachgegenstände richtig abbilden könne, keinesfalls hingegen etwas Prozesshaftes und Lebendiges und also natürlich auch keinen Menschen. Sein Wesen könne die Fotografie prinzipiell deswegen nicht erfassen, weil es nicht einfach ist, sondern sich erst im Flux herstellt.

Aber kann man das heute noch so denken, wo doch das Foto mehr und mehr zum Videoausschnitt oder zu einem Sandwich aus prozessierten Mehrfachbelichtungen wird? Umso heftiger stellt sich diese Frage angesichts der schlichten Allgegenwart von Fotografie. Denn durch die schiere Masse an Fotos, die überall und zu jedem Zeitpunkt gemacht und distribuiert werden, scheint es zu einer massiven Entwertung des Einzelbildes zu kommen, seine Darstellungsmacht schwindet und die eingangs behauptete Objektivierung nimmt ab. Nichtsdestotrotz scheinen sich gerade jüngere Generationen in hohem Maße über Abbildungen zu definieren, besonders ihre eigenen: Private Situationen und nebensächliche Angelegenheiten werden zu öffentlichen Realitäten, indem sich Bilder davon durch mediale Schneeballeffekte in den Social Media verbreiten: So kann ein völlig marginales Unterhaltungsereignis plötzlich weltweite Aufmerksamkeit erlangen.

Wer Bilder herstellt, ist Konstrukteur der Realität. Diese Gleichung gilt insbesondere dort, wo um politische Ereignisse und um die möglichst schnelle Verbreitung von diesbezüglichen Bildern gekämpft wird: Seit ein paar Jahren wissen wir, dass Handyfotos von Demonstranten den Lauf der Geschichte und die Zukunft ganzer Länder verändern können. „Handyfotos zerschlagen die Herrschaft des Stativs“ – damit meinte der libanesische Künstler Rabih Mroué, dass die via Internet verbreiteten Fotos von Opfern im syrischen Homs das staatliche Bildmonopol von Präsident Assad unterlaufen. Tatsächlich entsteht in Mediengesellschaften Realität erst durch Bilder, Ereignisse scheinen überhaupt nur dann stattzufinden, wenn sie medial präsent sind.

2012 war in Frankfurt am Main die Ausstellung Making History zu sehen, die nach Gegenwart und Zukunft des Historienbildes im Bereich von Fotografie und Bewegtbild fragte.4Vgl. Making History. Hg. Ray Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012Als Intro wurde im Foyer des Frankfurter Kunstvereins anhand einer Reihe von Bestsellern der Deutsche Presse-Agentur GmbH gezeigt, wie aus dem massenhaften Verbreiten von Medienbildern Geschichtsbilder entstehen: Die meistverkauften Fotos der Jahre 2004 bis 2011 waren als große Prints im Treppenhaus auf die Wand kaschiert, und so entstand ein kleiner Reigen von visuellen Monolithen. Darunter befand sich zum Beispiel das Bild des ehemaligen Deutsche Bank Chefs Josef Ackermann, dessen Victory-Zeichen zum Ausgang seines Gerichtsprozesses das Ansehen einer ganzen Branche schwer beschädigte (2004); das Bild von Joseph Ratzinger, dessen erhobene Hände die Bild-Zeitung zur Assoziation eines Weltmeisterschaftssieges und zu dem Jubeltitel Wir sind Papst! inspirierten (2005); das Bild eines schwer verletzten Demonstranten, dessen blutende Augen fast das Projekt Stuttgart 21 gekippt hätten (2010).

Die Medienöffentlichkeit ist grenzenlos, sie hat kein Zentrum mehr, und mit dem fast allgegenwärtigen Zugang zum Internet sind viele Kontrollmonopole gefallen. Zugleich ist sie enorm steuerbar geworden, weil mit bestimmten Bildstreuungen gezielt Realitäten geschaffen werden können (man denke nur an den Bilderkrieg in der Ukraine-Krise). Oft geht es in politischen oder militärischen Konflikten nicht mehr um die Unterbindung von unliebsamen Bildern, sondern um das gezielte Hinzufügen von konkurrierenden. Das restriktive Verringern ist oft weniger zielführend, als das Kontern mit anderen Bildern, die dann Authentifizierungskämpfe auslösen. Schwarmintelligenz manifestiert sich eben auch in der blitzartigen Verbreitung von visuellen Gerüchten und Desinformation. Das immer noch oft bemühte Diktum des römischen Lehrers Quintilianus, dass derjenige, der die Macht über die Bilder habe, auch die Macht über die Menschen besitze, muss also aktualisiert werden.

Neben den taktischen Bildflutungen gibt es nach wie vor auch genügend Beispiele für die Verknappung von Bildern. Eindrucksvoll belegt dies jene berühmte Aufnahme von 2011, die US-Präsident Barack Obama und seinen Sicherheitsstab im Situation Room zeigte; angeblich während der Beobachtung der Tötung Osama bin Ladens. Erinnern wir uns an dieses Foto: In einem offenbar engen Raum sind viele Personen zu sehen, im Vordergrund sitzen sie an einem Tisch auf dem sich mehrere Laptops befinden, im Hintergrund müssen sie stehen und drängen sich zur Tür hinein. In der Mitte ist ein Militäruniformierter mit vielen Abzeichen auf der Brust, Präsident Obama sitzt etwas an der Seite und ist halb geduckt. Rechts hält Hillary Clinton (scheinbar vor Schreck) die Hand vor den Mund und alle Personen schauen links aus dem Bild heraus: Offenbar beobachten sie konzentriert jene Bilder, die dort (wahrscheinlich auf einem großen Wandmonitor) gezeigt werden und die wir aber nicht sehen können. Das Ereignis der Ermordung des weltweit meistgesuchten Terroristen scheint nur durch die davon indirekt hergestellte Fotografie aus dem Weißen Haus zu existieren. Diese dient als Nachweis einer militärischen Aktion, während andere Bilder aus Pakistan der Weltöffentlichkeit vorenthalten bleiben. Die Siegermacht hat sich das Recht des einzigen Bildes genommen und dem Gegner die mediale Opferrolle verweigert – über diese medienstrategische Formung ist unendlich viel geschrieben worden. Schon wenige Tage nach dem 2. Mai 2011 war das Bild zu einem der signifikantesten Historienbilder des 21. Jahrhunderts geworden. Allerdings kamen schon bald nach der Veröffentlichung Zweifel auf, ob das Foto überhaupt während des besagten Moments aufgenommen worden war: Insider erklärten, Obama habe sich zum Zeitpunkt der Tötung gar nicht im Situation Room befunden. Und im Übrigen ist der so genannte Situation Room ein über 500 Quadratmeter großer Sicherheitsbereich mit zahlreichen Räumen.

Offenkundig herrscht heute ein visueller Antagonismus: Einerseits gilt es als selbstverständlich, die Realitätsnähe von Bildern in Frage zu stellen, andererseits wird der Medienöffentlichkeit und ihren Abbildern unumwunden geglaubt. Welche Folgen hat dies für eine Geschichtsschreibung, die sich an Bildern orientiert, und welche Art von kulturellem Gedächtnis erwächst daraus? Wie sehen jüngere Generationen, die mit der Möglichkeit totaler Bildmanipulation aufgewachsen sind, Historienbilder der Vergangenheit, wie zum Beispiel jenes von Willi Brandts Kniefall 1970 im ehemaligen Warschauer Ghetto? Diese ikonisch gewordene Demutsgeste gehört zu den bekanntesten Fotos der Nachkriegsgeschichte, sie ist wahrscheinlich in jedem diesbezüglichen Schulbuch abgedruckt und keine Dokumentation über die europäische Ostpolitik im 20. Jahrhundert kommt ohne dieses Motiv aus. Bis heute ist aber umstritten, ob Brandts andächtige Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg damals spontan oder gründlich überlegt war und falls sie geplant war, an wen sie sich eigentlich gerichtet hat. Solche historisch gewordenen Bilder werfen nicht nur die Frage auf, was sie von den jeweiligen Situationen, Zeiten und Konstellationen wiedergeben, sondern auch, welche prägenden Bilder der Gegenwart künftig als ikonisch erkannt werden. Wird es sich bei den Historienbildern von morgen noch um journalistische Bilder im eigentlichen Sinne handeln? Auch mit Blick auf den künftigen Zugang zu Bildern stellen sich grundlegende Fragen. Dem massenhaften Fotografieren und potentiellen Herstellen von Gegenöffentlichkeit steht das Quasi-Monopol von wenigen Megakonzernen auf die Verbreitung von Bildern entgegen. Paradoxerweise ist gerade dies der Grund dafür, dass es viele Bildwelten der Welt gibt: Denn erst die zusammengeführten Daten erlauben es Google, jedem Netznutzer eine ziemlich individuelle Bilderwelt vorzufiltern – entsprechend der „history“ seiner Anfragen auf dem jeweils benutzten Computer und dessen Standort. Die Relevanz von Bildern – und damit auch die Relevanz von Ereignissen – wird nicht mehr aus der angenommenen gesellschaftlichen Bedeutung abgeleitet, sondern aus der Interaktion von Netzteilnehmern. Zu den Möglichkeitsbedingungen dieser bislang unterschätzten Zäsur gehört auch der Umstand, dass Bilder heute fast nur noch immateriell distribuiert und kaum mehr ausgedruckt werden.

Die Produktion und der Konsum von Bildern und Informationen sind entfesselt. Aber ihren Höhepunkt hat die Mediatisierung sicher noch lange nicht erreicht: Bald wird jeder Kugelschreiber oder Turnschuh Filme aufnehmen und verzögerungsfrei an die halbe Welt verschicken, und es kommt zu einem permanenten Abbilden der eigenen Umgebung und Wirklichkeit, zu einer Dauerspiegelung. Angesichts dieser Prozesse sind Thesen zum Umgang mit, zur Herkunft von und zur Orientierung in Bildmilieus gefragt. Es geht um das Sich-Zurechtfinden und Lesen-Können der Bilder und um Antworten auf die Frage, wie dem permanenten Bilderbeschuss zu begegnen ist. Dass in der Kunstgeschichte der Begriff der Bildwissenschaft vorübergehend so stark werden konnte, war sicher auch eine Reaktion auf die Beobachtung zahlreicher künstlerischer Positionen zum Sammeln und Ordnen, zum Kommentieren und Dekonstruieren von Medienbildern, die eben beanspruchen Realität zu sein.

Künstler wissen, dass Bilder im Kunstkontext mutieren: Medizinische Fotos, Polizeifotos, Modefotos, Werbungsfotos, private Fotos, Tagebuchfotos, Handybilder und Zeitungsfotos werden dort anders gelesen. Auf der Museumswand ist in einem Modefoto etwas zu entdecken, das man in einer Zeitschrift übersehen hätte, denn im „White Cube“ herrschen andere Gesetze der Aufmerksamkeit, der Präsenz im Raum und der Aufladung mit Bedeutung. Viele Künstler dekonstruieren bekannte Gebrauchsweisen der Fotografie und treffen dadurch Aussagen über die Politik der Bilder. Bereits in den 1980er Jahren hatte der Mailänder Fotograf Oliviero Toscani mit seinen höchst umstrittenen Kampagnen für die Firma Benetton so öffentlich wirksam wie niemand zuvor die Frage nach moralischen Grenzen der Bildverwertung gestellt und gleichzeitig mit großer Chuzpe eine Brücke geschlagen zwischen dem journalistischen Foto, der Werbeaufnahme und dem künstlerischen Bild. Und folgerichtig befinden sich einige der damaligen Banner dieser Kampagnen – zum Beispiel jenes mit dem todgeweihten HIV-Erkrankten oder jenes mit dem blutigen Hemd eines im Bosnienkrieg Erschossenen – mittlerweile in den Sammlungen von Kunstmuseen.

Heute beziehen sich viele Künstler eher auf die Mediatisierung von Ereignissen, anstatt auf diese selbst. Sie kalkulieren gezielt mit jenem Stempel, den bekannte Bilder im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben. Sie zitieren solche Bilder, rekurrieren auf das Wissen von journalistisch vermittelten Ereignissen oder produzieren Reenactments. Andere Künstler thematisieren die Eigenarten von Medienbildern durch Sezierung oder Neukomposition und arbeiten an deren Entschleunigung. Eine Gemeinsamkeit solcher Verfahren einer Kunstfotografie ohne Fotograf ist, dass Aussagen eher durch das Sortieren und Organisieren, als durch die fotografische Aufnahme getroffen werden und auf diese Weise der Realitätsanspruch und die Deutungshoheit der dokumentarischen Fotografie bezweifelt werden. Stellen wir uns noch dazu einmal jenes Bild von Obamas Sicherheitsstab im Situation Room vor. Es manifestierte mit seltener Deutlichkeit, dass wir immer nur einen Teil des Geschehens sehen, aus nur einer Perspektive: Der Gegenstand des Bildes zeigt die Abwesenheit eines anderen Gegenstandes – und zwar genau und nur dann, wenn der Titel dieses behauptet. Ganz wie bei dem schwarzen Trugbild Objektivdeckel im Einsatz. Das Werk May 1, 2011 von Alfredo Jaar, dessen gesamtes Oeuvre um die Politik der Bilder kreist, ohne dabei eigene Fotografien einzusetzen, besteht im Wesentlichen aus zwei großen Flachbildschirmen, die wie ein Diptychon an der Wand hängen. Auf dem rechten ist als Standbild die berühmte Aufnahme aus dem Situation Room zu sehen, jenes einzige Bild des Ereignisses. Weil der leuchtende Monitor natürlich ein Video erwarten lässt, ist man gespannt darauf, dass etwas geschieht, dass weitere Bilder oder eine Bewegung darin erscheinen, dass eine Handlung das zementierte Einzelbild entzaubert, dass die Fragen endlich beantwortet werden. Aber nichts geschieht. Gar nichts. Auch auf diesem Videoscreen bleibt dieser Monolith reglos, das einzige bezweifelte Bild bleibt das einzige bezweifelte Bild. Und währendem zeigt der linke Monitor nichts als ein strahlendes Weiß. Und nichts taucht daraus auf, der Nebel lichtet sich nicht, nichts wird erkennbar. Was bleibt, ist ein weißes, konturloses Rauschen. Besser hätte ein Künstler das Phänomen dieses Medienbildes kaum auf den Punkt bringen können.

Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Textversion eines Vortrags, gehalten beim cahiers-Symposium Vom Nutzen der Bilder am 24. Mai 2014 in Dortmund.

  • 1
    Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1982
  • 2
    Kendall L. Walton, „Fotografische Bilder“. In: Kunst und Philosophie. Bd. 5 Fotografie zwischen Dokumentation und Inszenierung. Hg. J. Nida-Rümelin u. J. Steinbrenner. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012, S. 18
  • 3
    Vgl. Ines Schaber, „Fotografie und Kunst. Drei Fragen an Ines Schaber.“ In: 5. Europäischer Monat der Fotografie. Hg. Kulturprojekte Berlin GmbH. Bielefeld: Kerber, 2012, S. 22
  • 4
    Vgl. Making History. Hg. Ray Fotografieprojekte Frankfurt/RheinMain. Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012