Marcus Heine & Philipp Harms

Hidden Mother

Das Abgebildete auf einer Fotografie – Menschen, Objekte oder Situationen – weist mit seiner Anwesenheit im Bild auch immer auf die Abwesenheit des Repräsentierten hin. Eine Fotografie anzufertigen bedeutet immer, sich für Inklusion und Exklusion zu entscheiden. Dieser Grat ist mitunter schmal. Was passiert, wenn das, was im Bild nicht präsent sein soll, sich dennoch innerhalb der vier Ecken des gewählten Ausschnitts befinden muss, um die Fotografie überhaupt erst zu ermöglichen?

Eine Fotografie ist verbunden mit dem historischen Kontext ihrer Entstehung. Wie sich dieser Kontext und die Rezeption von Bildern aus heutiger Sicht zu neuen Lesarten verbinden, zeigt sich an einem Phänomen, das als Hidden Mother Photographs bekannt ist. Es beschreibt eine bestimmte Vorgehensweise bei der Anfertigung von Fotografien, die den Defiziten früher fotografischer Technik geschuldet ist.

Diese Bilder zeigen Portraits von Kindern, die etwa zwischen 1850 und den 1920 Jahren entstanden sind.1Anmerkung: die Technik findet auch heute noch Verwendung, wenn bspw. für Reisedokumente biometrische Portraitaufnahmen von Säuglingenbenötigt werden: Baby posing coat. http://www.wexphotographic.com/buy-lastolite-baby-posing-coat/p1524011.Der Bildaufbau ist in Bezug auf die dargestellte Umgebung und Requisiten oft ähnlich strukturiert. Die Kinder sitzen jedoch nicht direkt auf Möbeln, sondern sind auf menschlichen Körpern platziert, die ihrerseits durch Stoffe, Decken oder Vorhänge verdeckt werden. Der verhüllte Körper soll unsichtbar werden, wirkt jedoch ein wenig wie eine sichtbar gewordene Geistererscheinung. Ausgangspunkt für diese Studiotechnik war die Notwendigkeit langer Belichtungszeiten aufgrund des noch gering empfindlichen fotografischen Materials. Die Studios besaßen zwar verschiedene Vorrichtungen, um den Körper zu stabilisieren, jedoch waren diese für Kinder ungeeignet und oft zu groß. Das stille Ausharren während der Aufnahme musste anders ermöglicht werden. Dazu setzte sich eine erwachsene Person mit ins Bild, die das Kind in jener ungewöhnlichen Studiosituation beruhigen und stillhalten sollte. Die Person wurde dann mithilfe von Stoffen mehr oder weniger kunstvoll vom Mensch zum Objekt transformiert. Die Szenen im Studio mögen damals ebenso absurd gewirkt haben wie die Ergebnisse für uns heute. Während der Aufnahme dürften sich die Kinder zeitweise von mehreren verhüllten Personen umgeben wiedergefunden haben, da der/die Fotograf/in während der Einstellung der Kamera ebenfalls unter einem Tuch verschwinden musste.

Die Popularität der Kinderportraits wurde durch die Schwierigkeit ihrer Anfertigung nicht gemindert. Der Bedarf nach diesen Fotografien war hoch und mitunter auch dadurch gegeben, dass die Kindersterblichkeit im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich höher war als heute und der Wunsch nach einem Erinnerungsstück mittels der Fotografie erfüllt werden sollte. Makaber, aber nicht unüblich, war es sogar, bereits verstorbene Kinder im Studio zu inszenieren. Die verdeckte Person ist in jenen Bildern somit immer auch ein möglicher Hinweis darauf, dass das abgebildete Kind zur Zeit der Aufnahme noch am Leben war.

Das gegenwärtige Interesse an den Hidden Mother Photographs konnte bereits seit 2009 z. B. in der Fotocommunity Flickr ausgemacht werden, wo in der Gruppe Hidden Mother: Tintypes and Cabinets historische Fotografien dieser Art zusammengetragen werden.2Flickr-Gruppe: http://www.flickr.com/groups/1264520@N21/Die Motivation für den Austausch der Bilder scheint hier vor allem die Faszination am Absurden und Unheimlichen dieser Fotografien zu sein. Auf verschiedenen Blogs erschienen in den folgenden Jahren immer wieder Artikel zum Thema, die sich dabei häufig auf jenen Bilderfundus der Online-Community bezogen.3Unter anderem: The Museum of Ridiculously Interesting Things.com: Hidden mothers in Victorian portraits http://ridiculouslyinteresting.com/2012/01/05/hidden-mothers-in-victorian-portraits, [abgerufen am 1.9.2015] und More hidden mothers in Victorian photography: post-mortem-photographs-or-not? http:/ridiculouslyinteresting.com/2012/07/05/more-hidden-mothers-in-victorian-photography-post-mortem-photographs-or-not, Mail Online.co.uk: Old portraits of children with creepy ‚ghostmothers‘ in the background show how far mums would go for a good photo http://www.dailymail.co.uk/news/article-2155681/old-portraits-children-creepy-ghostmothers-background-far-mums-good-photo.html Deceptology.com: What are „hidden mother“ photographs? http://www.deceptology.com/2012/01/what-are-hidden-mother-photographs.html Boingboing.net: Hidden Mother Tintypes http://boingboing.net/2010/12/30/hidden-mother-tintyp.html Flavorwire.com: Strange Vintage Photos of Kids and Hidden Mothers http://flavorwire.com/242900/strange-vintage-photos-of-kids-and-hidden-mothers

Die Treffsicherheit des Begriffs Hidden Mother Photographs, der sich für diese spezielle Art historischer Studiofotografie etabliert hat, darf  jedoch hinterfragt werden, könnte sich hinter dem Schleier doch ebenso gut die Nanny, ein Studiogehilfe oder anderes Personal verborgen haben, das nicht zusammen mit den Kindern der Auftraggeber im Bild verewigt werden sollte.

Die Hidden Mother Photographs sind auch Thema zweier künstlerisch-kuratorischer Arbeiten aus dem Jahr 2013. Linda Fregni Naglers sehr umfangreiches Buch The Hidden Mother umfasst rund 1000 Abbildungen und war auf der 55. Biennale von Venedig im Palazzo Enciclopedico als Installation zu sehen, kuratiert von Cindy Sherman.4http://www.domusweb.it/en/art/2013/06/17/the_hidden_mother.html5„The exhibition will be on view at Blue Sky Gallery, Portland, OR in August 2014, Palmer Museum of Art in Spring 2015 and Allen Memorial Art Museum in Fall 2015.“ http://www.lauralarson.net/curatorial1.htmlLinda Fregni Nagler begann bereits vor fünfzehn Jahren mit dem Sammeln solcher Fotografien.

Laura Larsons Arbeit mit dem Titel Hidden Mother wurde ebenfalls bereits 2013 im Cabinet Magazine publiziert, 2014 erstmals ausgestellt und wird 2015 in zwei weiteren Einzelausstellungen in den USA zu sehen sein.6Linda Fregni Nagler, The Hidden Mother, Mack/Nouveau Musée National de Monaco, 2013, http://www.fantomeditions.com/linda-fregni-nagler-hidden-mother und http://www.lauralarson.net/curatorial1.html [alle Quellen zuletzt abgerufen am 1. 9. 2015]Für ihre Arbeit greift sie auf ihre eigene Sammlung, sowie auf die private Kollektion des Galeristen Lee Marks und John C. DePrez, Jr. zu.

Die Praxis des Sammelns und die Verwendung von Archiven ist etablierte künstlerische Praxis. Die Sammlung, Zusammenstellung und Präsentation bestimmter Kategorien historischer Fotos im zeitgenössischen Kontext provoziert durch gegenwärtige Lesarten neue Aussagen und Bedeutungen.

Es war gängige Praxis in den Fotostudios, das Kind im Zentrum des Bildes, mithin im Zentrum des Blicks zu platzieren. Die schemenhafte Figur dahinter wurde nicht als solche thematisiert oder oft einfach mithilfe eines (ovalen) Passepartouts weitestgehend verdeckt. In den frühen Jahren der Fotografie gab man sich scheinbar noch einer Illusion der Fotografie hin, betrachtet man die offensichtliche Künstlichkeit verwendeter Studiohintergründe und Requisiten in Portraitfotografien des 19. Jahrhunderts.

Aus diesem Unterschied in der Lesart der Bilder resultiert für heutige Betrachter die Faszination. Obwohl diese Fotografien Kinder abbilden, erzählen sie uns mehr über deren Eltern. Der Wunsch der Eltern nach einem Bild von den Nachkommen führte dazu, (möglicherweise) selbst in den Bildraum zu treten, nur um dann im Bild wieder unsichtbar zu werden. Der ursprüngliche Blick auf das Kind und das Ausblenden der verschleierten Person wird in heutiger Rezeption umgekehrt. Unser zeitgenössisch dekonstruktiver Blick richtet sich auf die Figur im Hintergrund, gerade weil diese sich durch ihre Transformation im Bild anonymisiert hat.

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    Anmerkung: die Technik findet auch heute noch Verwendung, wenn bspw. für Reisedokumente biometrische Portraitaufnahmen von Säuglingenbenötigt werden: Baby posing coat. http://www.wexphotographic.com/buy-lastolite-baby-posing-coat/p1524011.
  • 2
    Flickr-Gruppe: http://www.flickr.com/groups/1264520@N21/
  • 3
    Unter anderem: The Museum of Ridiculously Interesting Things.com: Hidden mothers in Victorian portraits http://ridiculouslyinteresting.com/2012/01/05/hidden-mothers-in-victorian-portraits, [abgerufen am 1.9.2015] und More hidden mothers in Victorian photography: post-mortem-photographs-or-not? http:/ridiculouslyinteresting.com/2012/07/05/more-hidden-mothers-in-victorian-photography-post-mortem-photographs-or-not, Mail Online.co.uk: Old portraits of children with creepy ‚ghostmothers‘ in the background show how far mums would go for a good photo http://www.dailymail.co.uk/news/article-2155681/old-portraits-children-creepy-ghostmothers-background-far-mums-good-photo.html Deceptology.com: What are „hidden mother“ photographs? http://www.deceptology.com/2012/01/what-are-hidden-mother-photographs.html Boingboing.net: Hidden Mother Tintypes http://boingboing.net/2010/12/30/hidden-mother-tintyp.html Flavorwire.com: Strange Vintage Photos of Kids and Hidden Mothers http://flavorwire.com/242900/strange-vintage-photos-of-kids-and-hidden-mothers
  • 4
    http://www.domusweb.it/en/art/2013/06/17/the_hidden_mother.html
  • 5
    „The exhibition will be on view at Blue Sky Gallery, Portland, OR in August 2014, Palmer Museum of Art in Spring 2015 and Allen Memorial Art Museum in Fall 2015.“ http://www.lauralarson.net/curatorial1.html
  • 6
    Linda Fregni Nagler, The Hidden Mother, Mack/Nouveau Musée National de Monaco, 2013, http://www.fantomeditions.com/linda-fregni-nagler-hidden-mother und http://www.lauralarson.net/curatorial1.html [alle Quellen zuletzt abgerufen am 1. 9. 2015]