Marc Botschen

Editorial

Ein Buch ist Nacht. Marguerite Duras sagt dies 1993 zu ihrem guten Freund und Filmemacher Benoit Jacquot1Écrire (1993) – Kurzdokumentation von Benoiît Jacquot über Marguerite Duras, DVD édition montparnasseund beginnt vor seiner Kamera zu weinen, sie weiß nicht warum. Schlecht sind für sie die Bücher, die keine Nacht haben. Die Bücher, deren thematische Spektren klinisch ausgeleuchtet sind, erklärend in der Bestrebung einer präzisen Darstellung. Licht ins Dunkel zu bringen, aus dem Nichts ein Etwas zu machen, führt zu literarischen Leichen, zu Büchern ohne Nacht. Dabei ist es doch gerade diese metaphorische Nacht, diese spürbare Tiefe eines Werkes, die als Projektionsfläche dem Rezipienten erst die individuell sinnliche Erfahrung des Werkes ermöglicht. Wenn das Werk erklärend wird, verliert es seine Nacht. Wenn es zu Etwas führt, stirbt es. Man denke sich die Anatomie des Dr. Tulp von Rembrandt ohne den Mann im Hintergrund mit dem Blatt Papier in der Hand. Ohne seinen Blick, der direkt den Betrachter fixiert und fast an die Präsenz einer nicht sichtbaren Kamera denken lässt, würde das Bild nicht über seinen Rahmen hinausgehen. Ohne diesen Blick, der eine imaginäre Welt des Betrachters eröffnet, wäre das Bild auf sich selbst zurückgeworfen, würde zur Darstellung malerischer Finesse degradiert, zum ästhetischen Objekt. Es verlöre seine Nacht, sein Leben, wenn es medizinisch bleiben würde. Es wäre über kurz oder lang zum Sterben verurteilt. John Cage schreibt 1995 in Silence2John Cage – Silence, Suhrkamp, Frankfurt a/M 1995, dass das Schöne an der Musik ist, dass sie zu NICHTS führt. Klang lässt sich fixieren, durch Objekte erzeugen, jedoch bleibt der Kern der Musik, die tonale Schwingung, nicht fassbar. Sie ist nichts, sie will nicht erklären, sie lässt die Nacht, von der Duras so sehr gezehrt hat, erahnen. In der Fotografie ist man mit dem Umstand konfrontiert, eine Vielzahl von Objekten benutzen und produzieren zu müssen, um zu diesem idealen Nichts einer geistig-sinnlichen Erfahrung zu kommen. Dass man erst mit Hilfe des einen Objektes (der Kamera) über ein weiteres Objekt (dem Film oder der Speicherkarte) zu einem dritten finalen Objekt (dem Bild) kommt. Es ist verführerisch, im Laufe dieser Verkettung von verschiedenen Prozessen bei einem Objekt stehen zu bleiben, in der Hoffnung, dass es durch das Zeigen mehr ist als nur es selbst. Um zu einer Nacht zu kommen, einem Wirken außerhalb des Mediums, müssen Werkzeug und Objekt im fotografischen Prozess zum Schweigen gebracht werden. Im Idealfall führt diese Verkettung der Prozesse in der Bildproduktion zu dem sinnlichen Nichts, von dem Duras und Cage gesprochen haben. Ein Nichts, dass alles ist. Erst wenn die Prozesse nicht mehr den Ausdruck verschleiern, kann man das erahnen, was jedem fotografischen Ausdruck im Kern innewohnt: Ein Hauch von Verzweiflung. Der Kampf um Sprache und deren Bedeutung. Die Anstrengung, zu kommunizieren. Das ist Nacht. Und es ist schön, wenn einem die Fotografie so etwas zugänglich machen kann. Eine Form von Nachtleben und eine Ahnung des nicht Sichtbaren. Eine sinnliche Form von Nichts.

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    Écrire (1993) – Kurzdokumentation von Benoiît Jacquot über Marguerite Duras, DVD édition montparnasse
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    John Cage – Silence, Suhrkamp, Frankfurt a/M 1995